Herr Bundespräsident, ist Schuld endlos? (01/2020)

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Offener Brief – Herr Bundespräsident Frank Walter Steinmeier

Verantwortung und Schuld der Deutschen am Holocaust auf Ewigkeit?

Herr Bundespräsident, auf ein Wort, bitte …

75 Jahre Befreiung des KZ Auschwitz-Birkenau

auschwitzHerr Bundespräsident, darüber sollte Einigkeit bestehen. Der 27. Januar 1945 – einer der Tage, an denen das Grauen Gesichter bekam. Wie vorher in Majdanek und Treblinka, wie später im Mittelbau Dora, in Buchenwald und anderswo. Berge an Leichen, Berge an Resten menschlichen Lebens, ausgemergelte Gesichter, die kaum noch menschliche Züge trugen. Das grauenvolle Ergebnis einer wahnwitzigen Idee, ein kollektives Verbrechen, ausgeführt von Tätern aus Überzeugung, aus Mitläuferschaft und nicht zuletzt aus Angst, selbst auf dem Richtblock zu landen, wer den Befehl verweigert.

Wesenszüge der Diktatur

Wer in einer Diktatur gelebt hat, der weiß dass es stets auch um das eigene Leben, um die eigene Gesundheit, um die eigene Freiheit geht, wenn man sich offen dagegen stellt. Heldentum ist keine vorherrschende Eigenschaft unserer Spezies.
Zutiefst bewegt habe ich die Rede des Überlebenden Abba Naor anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des KZ Dachau am 03.05.2015 verfolgt, in der er sagte: „Wenn sie nun glauben, die Nazis waren unmenschlich, dann irren sie, sie waren Menschen, wie sie und ich. Und das ist ja das Furchtbare daran. amazonvideo

Die Streitkultur ist heruntergekommen

Selbst KZ-Kommandanten waren, wie berichtet wird, liebevolle Väter, die mit ihren Kindern spielten, nachdem sie tausende in die Gaskammern getrieben hatten.“
Ich stelle diese Worte voran, Herr Bundespräsident, um nicht in den Verdacht zu geraten, zu denen zu gehören, die diese Verbrechen an der Menschheit verharmlosen oder gar vergessen machen wollen. Leider ist die Streitkultur in diesem Lande auf ein Niveau herab gesunken, welches derartige Befürchtungen zulässt, in dieser wie in anderen Angelegenheiten.

Vergessen, nie, Gedenken, ja

Daran hat die Politik keinen geringen Anteil. Aus Respekt vor den Opfern erscheint dieser Brief außerdem einen Tag nach dem 27. Januar, dem Tag, an dem die Welt der Toten gedenkt.
Vergessen, nie, Gedenken, ja, ewige Mahnung, ja, doch wie sieht es mit Verantwortung und Schuld aus? Und wer hat das Recht, uns allen, den Deutschen, eine unvergängliche Verantwortung und somit eine unvergängliche Schuld aufzubürden?

Sehr geehrter Herr Bundespräsident

In Ihrer Rede, Herr Bundespräsident, in der nationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem heißt es: „Unsere deutsche Verantwortung vergeht nicht. Ihr wollen wir gerecht werden. An ihr sollt Ihr uns messen.“
Wie kommen Sie darauf? Dass dieses Deutschland territorial nicht mehr identisch ist mit dem von 1933, unwesentlich. Doch wie sieht es mit den Deutschen aus? 83 Millionen, die einen deutschen Pass besitzen, die auf dem Territorium des Staates leben, der sich Bundesrepublik Deutschland nennt, die hier geboren, die zugewandert oder geflüchtet sind und hier Schutz gefunden haben, die einst kamen um Arbeit zu finden. amazon_audible

Ist Schuld etwa vererbbar?

Oder einfach all jene, die sich als Deutsche fühlen. Die erdrückende Mehrheit all derer, egal woher sie kommen, egal warum sie hier leben, egal was sie verbindet, egal was sie trennt, eint aber ein einziger Sachverhalt: sie sind nach dem 30. Januar 1933 geboren. Sie trifft keine Schuld und somit keine Verantwortung und schon gar keine kollektive, es sei denn, der Einzelne ist bereit, aus welchem Grunde auch immer, eine solche zu übernehmen. Das stünde auch Ihnen frei, Herr Bundespräsident. Doch mit welchem Recht sprechen sie für Deutschland? Ich, wie Millionen andere, fühle mich nicht verantwortlich wie ich mich auch nicht schuldig fühle, oder ist Schuld Ihrer Meinung nach vererbbar?

Wer hat Sie gewählt, Herr Bundespräsident?

herr_bundespraesidentSie sind nicht einmal gewählt, jedenfalls nicht nach den Prinzipien, die einer westlichen Demokratie gerecht werden. Dass das Grundgesetz der BRD ihren Status legitimiert, Herr Bundespräsident, heilt diesen Umstand noch lange nicht, weil auch dieses Grundgesetz zu keiner Zeit eine demokratische Legitimation erfuhr. Wenn auch immer mal wieder Politiker erklären, es habe sich bewährt, das Grundgesetz. Man hat sich darin eingerichtet, nicht mehr und nicht weniger.

Die Legende vom Steigbügelhalter

Selbst einer der wichtigsten Gründe, der seinerzeit Ihrem beschränkten Machtstatus Pate stand, ist inzwischen hinreichend widerlegt. Jeder der die Geschichte kennt, weiß was ich meine. Nur wenige, vornehmlich links orientierte Historiker, halten an den Legenden fest, Der Reichspräsident sei Hitlers Steigbügelhalter gewesen. Nun kann man man Ihnen dieses Defizit nicht zur Laste legen, eher denen, die für die Ausgestaltung der Verfassung zuständig sind, doch die tun nichts, warum auch, man hat sich doch gut eingerichtet.

Der Riss in unserer Gesellschaft

Wie fühlt man sich denn als Repräsentant, dessen Kür in einem mehr als traurigen Prozess zwischen den im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien ausgehandelt wird, Herr Bundespräsident? Für ausgehandelt könnte man auch ein anderes Wort verwenden, das wäre aber unhöflich Ihnen gegenüber. Die Hälfte der Wahlfrauen und Männer, die ihnen wie anderen vor ihnen in dieser Inszenierung ihre Stimme gaben, ist auch nicht demokratisch gewählt worden, sondern von Interessenvertretern der Parteien ausgewählt, die sich an das Ritual halten, das eher dem „Zettelfalten“ ähnelt, wie wir es in der verstorbenen DDR kannten.

Es gibt auch Kritiker

Schon allein dieser Grund verleiht Ihnen nicht das Recht, für Deutschland zu sprechen, Herr Bundespräsident. Mit solchen Bekenntnissen wie dem in Yad Vashem tragen sie wenig dazu bei, dass sich der immer tiefer werdende Riss in dieser, unserer Gesellschaft nicht noch weiter vertieft und neben den zahllosen Claqueuren, die Ihren Auftritt bejubelten, gibt es ja auch einige Kritiker.
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Selbstherrlichkeit

So wichtig es ist, dass sich an einem solchen Tag ein hochrangiger Deutscher zur Schuld derer bekennt, die diese Verbrechen verübt haben, so wenig haben Sie denen einen Gefallen getan, die Sie erneut in kollektive Staats-Haft nehmen, Herr Bundespräsident. Vielleicht lohnt es sich, darüber nachzudenken woher zunehmender Antisemitismus stammt. Abgesehen von dem, den wir tagtäglich in unser Land hinein lassen. Hass entsteht auch dort, wo man Menschen permanent eine Schuld zu unterschieben versucht, die keiner mehr versteht. Und jeder weiß, dass es hierbei nicht allein um verbale Zuwendungen geht.

Arroganz der Macht

Den Anfängen wehren kann auch beinhalten, dass man wieder denen sein Ohr zuwendet, die nicht hinreichend dazu in der Lage sind, sich differenziert genug zu einem derart schwierigen Thema zu äußern und daher bisweilen dazu neigen, den Populisten auf den Leim zu gehen.
Doch gewinnt man gelegentlich den Eindruck, dass Teile der Politik zunehmend in Selbstherrlichkeit versinken, manche nennen es Arroganz der Macht. Dieser letzte Teil des Briefes war an sich nicht vorgesehen. Die Idee entstand am Abend des gestrigen Tages, dem 27. Januar 2020. Eine im Thüringer Landtag vertretene Partei beging im Tivoli zu Gotha ihren 30. Gründungstag.

Die Politik feiert sich selbst

Doch anstatt all jene zu ehren, die vor 30 Jahren unter schwierigsten Bedingungen diesen Parteitag vorbereiteten, feierten sich Parteiführung nebst einer Hand voll Lokalpolitiker in ihren acht Prozent der letzten Landtagswahl. Man könnte es als eine Momentaufnahme bezeichnen, wäre da nicht die Symptomatik der öffentlichen Wahrnehmung von Politik schlechthin. Niemand möchte glauben, um auf den Ausgangspunkt zurück zu kommen, dass Ereignisse wie der 27. Januar und dessen Vorfeld zum selben Zweck benutzt werden. In diesem Sinne, Herr Bundespräsident,
mit freundlichen Grüßen
der Autor dieser Seite

Nachbemerkungen

herr_bundespraesident_roger_willemsen_das_hohe_hausImmer wenn ich über den Zustand dieser, unserer Demokratie nachdenke und die Zeit dafür habe, nehme ich mir Roger Willemsen zur Hand, schlage das Buch an einer beliebigen Seite auf, um ein paar Seiten zu lesen. Es ist immer wieder interessant und selbst acht Jahre nach der Erstveröffentlichung hat sich scheinbar nichts verändert, warum auch? Die Frage steht schon weiter oben, man hat sich doch so richtig gut eingerichtet.

Aus dem Klappentext

Ein Jahr lang sitzt Roger Willemsen im Deutschen Bundestag – nicht als Abgeordneter, sondern als ganz normaler Zuhörer auf der Besuchertribüne des im Berliner Reichstag. Es ist ein Versuch, wie er noch nicht unternommen wurde. Das gesamte Jahr 2013 verfolgte er in jeder einzelnen Sitzungswoche … Er erlebt nicht nur die großen Debatten und Feierstunden, sondern auch Situationen, die nicht von Kameras erfasst werden … Der Bundestag, das Herz unserer Demokratie funktioniert – aber anders als vielleicht gedacht. Vielleicht auch eine Lektüre für Sie, Herr Bundespräsident?
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