Frei von Angst - Anstand 1960
Von: frankcmey 10. Dezember 2020
Der Russe – Er beugte sich zu mir herab, ich war frei von Angst, doch als er zu griff wartete ich nicht, sondern rannte davon …
Das Jahr 1960, dichter Nebel, die Hand kaum vor den Augen zu erkennen. 1960 oder ein Jahr später, ich weiß es nicht mehr so genau, kann sein sogar ein Jahr davor? Die Geschichte wurde jahrzehntelang während diverser Familienzusammenkünfte regelmäßig zum Besten gegeben als „der Russe“. Ebenso wenig weiß ich, warum sie mir gerade vor einigen Tagen durch den Kopf ging. Lange vergessen, seit Ewigkeiten nicht mehr daran gedacht.
Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass man in dieser Zeit der Pandemie den Unterschied zwischen Anstand, man kann es auch Solidarität nennen, und grenzenlosem Egoismus, Ignoranz und Rücksichtslosigkeit besonders drastisch vor Augen geführt bekommt.
Eine Minderheit der Gesellschaft, die das Problem verdrängt, assoziative Isolation, das Bewusstsein entwickelt Strukturen, die unangenehme Wahrheiten abwehren, sie außerhalb des Bewusstseins quasi isoliert.
Wie die ungewollt Schwangere, die, solange bis sie es nicht mehr verbergen kann, die ungewollte Schwangerschaft verdrängt. Bis dahin schadet sie sich im schlimmsten Falle selbst. Wenn sie aber, um ihren Zustand weiterhin zu vertuschen, sich den Leib über das körperlich Erträgliche einschnürt und damit möglicherweise das ungeborene Leben nach Ablauf des dritten Schwangerschaftsmonats gefährdet, dann wird sie kriminell.
… jedenfalls sofern er im Besitz einer durchschnittlichen Intelligenz ist, begibt sich in eine vergleichbare Lage. Er nimmt die eigene Erkrankung (und möglicherweise den Tod) billigend in Kauf. Das mag, abgesehen davon, dass er die Solidargemeinschaft im Falle seiner eigenen Erkrankung unnötigerweise in Anspruch nimmt, Privatsache sein.
Wenn er aber damit, ob bewusst oder unbewusst, die Erkrankung (und möglicherweise den Tod) Dritter durch Ansteckung in Kauf nimmt, wird er ebenfalls kriminell. Und anders kann und darf man das Verhalten einer Reihe dieser Zeitgenossen nicht bewerten. Ihre Anführer oder Parteigänger sind nicht besser. Wenn Menschen an niedere Instinkte appellieren oder dieselben aktivieren, sind sie nicht minder kriminell. Das Verhalten mit fehlendem Anstand zu erklären, wäre hier zu kurz gegriffen.
Doch zurück zu der Erinnerung, den Novembertag. Den ganzen Tag über rollten Militärkonvois durch unsere Kleinstadt, die an einer Fernverkehrsstraße liegt (heute nennt man dieselben Bundesstraßen). Die längste Fernverkehrsstraße Europas, brüsteten wir Pimpfe uns seinerzeit. Ob das wirklich so war, das wusste keiner ganz genau. Irgendjemand musste es einmal behauptet haben. Dennoch, man war stolz, an der längsten Fernverkehrsstraße Europas zu leben, wir hatten nur nichts davon – DDR eben.
Heutzutage schier unvorstellbar, doch seinerzeit konnte man die Zahl der Autos, die tagtäglich solche Straßen befuhren, noch an wenigen Händen abzählen, es sei denn das Militär hielt irgendwo eine Übung ab. Dort wo die Hauptstraße in flachem Winkel abbiegt, wo es geradeaus in den Ort hineingeht, befindet sich direkt innerhalb des daraus resultierenden Dreiecks eine mit mehreren Baum- und Strauchgruppen bepflanzte Grünanlage. In deren Zentrum ein Denkmal für die Gefallenen des Ortes während des Ersten Weltkrieges.
Gebogene Mauer von Säulen unterbrochen, mit Metalltafeln, darauf die Namen der Opfer gestanzt. Meine Familie beklagte allein drei Tote. Ob ich stolz darauf war, weiß ich nicht mehr, sofern man das im zarten Alter von sieben Jahren überhaupt beurteilen konnte. Auf einem zentralen Podest ein steinerner Löwe, der gen Osten blickt. Man konnte bequem auf dessen Schultern sitzen. Verboten zwar, doch wen störte das? Bei einem Lenin-Denkmal hätte man sich wahrscheinlich anders verhalten, der Russe war ja wer.
Die Grünanlage wenige Meter vom heimischen Hof entfernt, eine beliebte Spielstätte, besonders wegen der Strauchgruppen, hinter denen man sich trefflich verstecken konnte. In der späteren Jugendzeit brachte dieser Umstand einen weiteren Vorteil mit sich, auf dessen nähere Beschreibung ich an dieser Stelle aus gutem Grunde verzichten möchte. An diesem Abend war alles anders – der Russe.
Es gab Freaks, die aus zwei eine machten, indem man die Hülse der zweiten nach Abschrauben des Kopfes über das Deckelgewinde am Fuß der ersten schob und beide Teile verlötete. Das sah geil aus, der Stab doppelt so lang, doppelt so viel Batterien, der Lichtstrahl nahezu doppelt so hell und weitreichender. Allein die Glühbirnen brannten regelmäßig durch, aber die kosteten nur Pfennige und waren leicht zu ersetzen.
Die Laser-Schwerte aus „Star-Treck“ waren noch nicht bekannt, doch Lichtstrahlen im dichten Nebel wirken ähnlich. Aber wir fochten nicht wie die Jedi-Ritter, sondern funzelten in die Fichten, in denen sich Eulen und Kauze versteckten. Das besondere Gaudi, wenn man einen Vogel erwischte. Von den grellen Lichtbündeln gelähmt, ergriff er nicht einmal die Flucht, warf man Steine ins Geäst. Man musste ihn treffen. Letzteres gelang nie.
An bewusstem Abend waren es nicht Eulen und Kauze, denen unserer Aufmerksamkeit galt, sondern DER RUSSE. In ein grau-braunes Cape gehüllt, mit Kapuze, die den Stahlhelm und den oberen Teil seines Gesichts bedeckte, stand er nahezu bewegungslos direkt auf der Spitze zwischen abbiegender Hauptstraße und Ortseinfahrt. Wir trauten uns nicht in seine Nähe, funzelten ihn von hinten an oder von der anderen Straßenseite aus. Er wirkte bedrohlich, obgleich er nichts dergleichen tat, er stand nur da.
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Zwischen den Säumen des Capes, das vermutlich von Knöpfen zusammengehalten wurde, lugte in Höhe seiner Brust der Lauf einer Maschinenpistole heraus. Der rechte Arm reckte sich durch einen Schlitz an der Seite des Capes, während der linke offenbar unter dem Cape an der Waffe lag. Wir hatten keine Angst, Respekt? Vielleicht, da stand etwas Fremdes, wie ein großes, grau-braunes Tier – der Russe. Der Russe – das war so ein Begriff in der damaligen Zeit, die Worte „der Russe“ beschrieben ein ganzes Volk.
Vor ihm, in einem Dreibein befestigt, eine brennende Fackel, daneben ein Sack, in dem, wie wir vermuteten, weitere Fackeln als Reserve verstaut sein mussten. Der Einsatz brennender Fackeln bei starkem Nebel war in der DDR bis Ende der 80er Jahre an Kreuzungen und Abzweigungen üblich. Offenbar hatte sich die Sowjetarmee diese Methode zu eigen gemacht, vielleicht stammte sie ja auch von da. Der Russe hat nichts, das war auch so ein Spruch, von Deutsch-Sowjetischer Freundschaft spürte man in der Praxis damals nichts.
Wir funzelten aus dem Schutz der Denkmalmauer heraus auf die Ladeflächen der LKW, deren Planen an den Rückseiten nicht verschlossen waren. Russen in ihren kackbraunen Uniformen, die Gewehre zwischen den Knien. „Hellkackbraun“, wie ich Nachbar Ede einmal reden hörte. Die Russenscheiße sei deshalb hellbraun, weil die die ganze Woche nichts anderes als Borschtsch zu fressen bekämen. Sonntags ein paar Fettgrieben darin, ansonsten mehr Wasser als Kohl, wusste der Nachbar zu erzählen. Das habe er im Krieg mehr als einmal erlebt.
Nachbar Ede, der sich offenbar während der Entnazifizierung erfolgreich krank gemeldet hatte. Er traute sich nur zu uns herüber, wenn mein Opa nicht anwesend war. Als Sozialdemokrat der der Zwangsvereinigung mit der KPD 1946 standgehalten hatte, hasste der die Nazis wie der Teufel das Weihwasser. Doch in einem waren sie sich einig, Opa und Nachbar Ede, der Russe war für beide der Iwan, so wie ihn schon die Nazis nannten, der Feind, und beide hassten sie die Kommunisten, das Einzige, was sie einte.
Wir waren also von Hause aus nicht unbedingt als Freunde der ruhmreichen Sowjetunion, wie man in der DDR den „großen Bruder“ an offizieller Stelle gern nannte, erzogen. Das traf ebenso auf meine Spielkumpels zu. Aber Angst hatten wir keine vor diesem Soldaten, ein mulmiges Gefühl schon. Noch einmal zur Erinnerung, wie schrieben 1960 oder 61 – so lange war der Krieg noch nicht zu Ende. Der Russe war nach dem Ami gekommen, viele hätten es gern umgekehrt gesehen.
Dennoch empfand ich keinen Hass gegen die, die da durch die nasskalte Nacht fuhren. Was für arme Schweine das waren, erfuhr man erst verlässlich nach der Wende. Gerüchte gab es vorher bereits genug, doch durfte man wegen strengster Strafe, die jedem drohte, der die ruhmreiche Sowjetarmee „diffamierte“, nicht ein einziges Wort darüber offiziell verlieren. Daran trugen andere die Schuld, nicht die armen, frierenden Hunde auf den LKW. Von denen war keiner freiwillig hier.
Ich weiß nicht einmal mehr, ob er mir leid tat, dieser Soldat, der Russe, von dem man keinen Gesichtszug erkannte, kein Alter, wahrscheinlich zählte er nicht viel mehr Jahre als mein neun Jahre älterer Bruder. Heute weiß ich, dass es junge Burschen waren, die man hierher schickte, kaum Achtzehn und schon eingezogen. Womöglich lebt er ja noch? Nicht totgeprügelt von verrohten Offizieren und sogar Kameraden, nicht auf der Flucht erschossen, weil er wie andere neugierig war, was da außerhalb der Kasernen in diesem fremden Land passiert.
Da wo die „Faschistki“ leben, wie man selbst uns Ostdeutsche in der Sowjetunion seinerzeit noch bezeichnete. Bei nicht wenigen mit Recht. Und die „Kapitalistki“, weil es uns in der DDR eben besser ging als der Mehrheit der Russen und der im roten Kolonialreich unterjochten Völker. Als ich das erste Mal in Leningrad war, zwölf Jahre später, wurden wir auch noch als Faschistki beschimpft, alte Männer, die womöglich das Leid während der Belagerung erlebt hatten, verständlich.
Kann sein er tat mir leid, der Russe, auf jeden Fall ergriff mich Trauer, als der Ruf meiner Mutter durch den Nebel hallte. Vielleicht hatte ihm unsere Gesellschaft gefallen? Abendbrotzeit, und weil das bei fast allen nicht anders war, verließ nicht allein ich das Feld, sondern auch die anderen. Da stand er nun, im Nebel, die Fackel zu seinen Füßen, alleingelassen, der Russe. Vielleicht hatten wir ihn ein wenig unterhalten mit unserer Anwesenheit, mit unserer Neugier, mit unseren Funzeln?
Ohne lange zu überlegen, riss ich eine Lage Butterbrotpapier von der Rolle, die stets am Küchenschrank hing und wickelte die für mich bestimmten zwei Puffer darin ein. An die Reaktionen der Familie vermag ich mich nicht mehr zu erinnern, doch niemand hinderte mich. Als siebenjähriger hätte ich mich andernfalls wohl fügen müssen. „Für den Soldaten an der Chaussee“, werde ich vermutlich gesagt haben, bevor ich das Haus verließ. Mit klopfendem Herzen reichte ich dem Soldaten wenig später das Päckchen zu.
Er zögerte nicht einmal, ob er sich freute, weiß ich nicht, sein Gesicht konnte ich in der Dunkelheit nicht erkennen, trotzdem er sich zu mir herabbeugte, als er zugriff. Ich wartete nicht, sondern rannte davon, kaum dass er das Päckchen in der Hand hielt. An der Straßenecke blieb ich stehen, gerade in dem Moment biss er zu, das war im Schein der Fackel zu erkennen.
Später, wenn das Ereignis ins Gespräch kam, habe ich mich oft gefragt, ob der Soldat, der Russe, das Paket auch von einem Erwachsenen genommen hätte, wohl eher nicht. Wurden sie belehrt über mögliche Angriffe der „Faschistki“?
Doch in Einem war ich mir stets gewiss, wenn das Thema „Der Russe“ angeschnitten wurde, so oft man in meiner Familie darüber sprach, so oft wird er, dieser Soldat, zu Hause davon erzählt haben, falls er überlebte. Anstand oder Mitgefühl, was macht das schon für einen Unterschied?
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