Interview Die Betonung liegt auf "sozial". Das Volk sprach mit Frank Meyer (Vorstandssprecher) und Pfarrer Hans Capraro von der SDP über Ziele und Progranmmatik der Sozialdemokraten in Thüringen 

Gesprächspartner: Dr. Peter Sterzing und Sergej Lochthofen

Foto: Sascha Fromm, Das Volk, Ausgabe vom 6.1.1990, Seite 6
 
Wie kam es zur Bildung der SDP in Erfurt?
F. Meyer: Ich bin bis 1982 Mitglied der SED gewesen. Dann trat ich aus, de wir mit Beginn der 80er Jahre einen Kurs einschlugen, der auf das hinaus lief, was wir in der jüngsten Vergan- genheit  erlebten. Da ich ohnehin den den sozialdemokratischen Ideen auch während  meiner Mitgliedschaft in der SED nahe stand, konnte der verstärkte Dogmatismus jener Zeit nur diese Wirkung auf mich haben. Als dann bekannt wurde, dass in Berlin eine Sozialdemokratische Partei gebildet wird, suchte ich Anschluss. Am 9. November kam es zur Bildung einer regio- nalen Gruppe der SDP, der heute schätzungsweise in Thüringen 2.500 Mitglieder angehören.
H. Capraro: Ich komme aus einer sozialdemokratischen Familie, deren Tradition jedoch in der Nazizeit unterbrochen wurde. Nach der Zwangsvereinigung gab es ja auch da erhebliche Schwierigkeiten. Als Pfarrer, zuletzt an der Thomaskirche in Erfurt, kam ich mit vielen sozialen Missständen in Berührung, die meine Auffassung verfestigten, mich auch politisch zu enga- gieren. So beteiligte ich mich an der Gründung einer sozialdemokratischen Organisation in Erfurt und gehörte Anfang November zu deren Gründungsmitgliedern.

Worin unterscheiden Sie sich von der in einer Erneuerung befindlichen SED-PDS, die sich ja gleichfalls auf sozialdemokratische Wurzeln besinnt?
H. Capraro: Das ist für mich eine sehr ernste Frage, die sicherlich auch im Wahlkampf eine Rolle spielen wird. Ich habe die Rede von Gisy gelesen und war etwas überrascht, sozialdemo- kratische Gedanken dort vorzufinden.
F. Meyer: Wir haben natürlich schon über diese Frage diskutiert. Das klang ja bereits in Vorbereitung auf den Sonderparteitag (der SED, Anm.) an. Allein der Begriff "demokratischer Sozialismus" (-1- siehe dazu Anmerkungen im Fusstext) , für den die Sozialdemokratie steht, ist so ein Reibungspunkt. Aber Begriffe und Namen allein sind Schall und Rauch, sie müssen in der politischen Praxis ihren Anspruch beweisen.

Die SPD hat in Westberlin ein neues Programm angenommen, worin unterscheidet sich Ihre Partei von den dort getroffenen Zielsetzungen?
H. Capraro: Natürlich ist es ein breites Spektrum von Auffassungen, die sich in der Sozial- demokratie zusammenfasst. Für mich sind die christlichen Wurzeln, die gesellschaftsrelevanten Aussagen der Bibel, die von der Sozialdemokratie in politische Schritte umgelenkt werden müssen, besonders wichtig. Aber selbstverständlich gehört auch die Tradition der deutschen Arbeiterbewegung dazu und auch Marx. Viele profilierte Theologen und Pfarrer sind ja in der Sozialdemokratie aktiv tätig gewesen.

Trotzdem braucht man ein Programm, an dem jeder, und in Zukunft vor allem die Wähler, eine Partei erkennen können...
H. Capraro: Bitte lassen Sie uns noch ein wenig Zeit. Wir wollen eigenständig sein und nicht etwas abschreiben.
F. Meyer: Wir begreifen uns auch nicht als eine Programmpartei in dem Sinne, dass wir dog- matisch festhalten wollen an einmal festgeschriebenen Punkten. Das Programm ist für uns nur der Rahmen, in dem sich die Vielfalt der Auffassungen zu einem bestimmten Thema bewegt. So ist für uns beispielsweise der Revisionismus - immer wieder durch den Stalinismus zur Verteufelung Andersdenkender missbraucht - kein Makel. Im Gegenteil! Um noch einmal auf das SPD (West - Anm.)-Programm zu kommen: Wir können es ja gar nicht einfach übernehmen, da bei uns die Bedingungen ganz anders sind. In einer Reihe von Fragen, beispielsweise der Demokratisierung der Wirtschaft (-2-), die leider von der "Mittagschen (-3-)Kommandowirtschaft" deformiert wurde, sind wir weiter. Die SPD in der Bundesrepublik muss sich noch mit dem System des staatsmonopolistischen Kapitalismus herum schlagen (-4-).

Das lang erzwungene Schweigen hat zur Folge, dass man sich heute schnell in einer Stellung "gegen" etwas formiert. Spätestens nach den Wahlen muss es durch das "Für" ersetzt werden...
F. Meyer: Ja, das ist der Braten, von dem wir heute noch zehren, doch er wird sichtlich kleiner. Das wird zweifelsohne auch bei der in Vorbereitung befindlichen Gründung des Landesver- bandes der SPD in Thüringen und dann auch bis Februar, wenn der Parteitag die Weichen für die weitere Arbeit stellt, uns beschäftigen. In unserer Zielsetzung gehen wir von einem demokratischen Sozialismus (-1-) aus, der auf der Grundlage einer parlamentarischen Demokratie basiert. Der Begriff "Demokratischer Sozialismus" muss natürlich noch klarer definiert werden, das betrifft aber genauso die SED-PDS, die ihn ja auch in ihr Programm aufgenommen hat. Sowohl sie, als auch wir haben da noch ein ganzes Stück Arbeit zu leisten.

Wir kommen immer wieder auf die SED-PDS zu sprechen, befinden Sie sich da in einer historischen Umklammerung? Sehen Sie in Ihrer Mitgliedschaft auch ihr politisches Potential?
H. Capraro: Eigentlich nicht. Als Sozialdemokrat bestreite ich selbstverständlich die Fähigkeit anderer, unsere ureigensten Inhalte richtig politisch vertreten zu können. Insofern geht es uns auch bei den Wahlen nicht um eine Gruppe, sondern um alle Wähler. An dieser Stelle frage ich auch ganz klar, mit welchem Recht die CDU die christlichen Bürger für sich beansprucht? Probleme bereitet natürlich der angesprochene Übergang von einer "Gegen-Position" zu einer "Für-Position". Geben Sie uns dazu noch etwas Zeit. Im Übrigen habe ich das Gefühl, im kommenden Halbjahr werden wir zum Beispiel in der Wirtschaft in vielen Bereichen vor vollendete Tatsachen gestellt. Ich habe etwas Angst, dass uns die Entwicklung einfach überrollt. Wie fangen wir beispielsweise soziale Prozesse auf, wenn hier Subventionen wegfallen.

Hier schließt sich unsere nächste Frage nahtlos an: Im Gespräch ist die soziale Marktwirtschaft. Diese setzt wiederum eine hohe Produktivität voraus. Da wir ein nötiges Wachstum auf Sicht noch nicht erlangen, heißt das künftig Millionen Arbeitslose in der DDR?
F. Meyer: Wir wollen im Unterschied zum Demokratischen Aufbruch oder zum Neuen Forum die Betonung auf "sozial" setzen. Doch ohne Marktwirtschaft kann es keine Gesundung der Wirtschaft bei uns geben. Die Konsequenzen dessen sind klar: Marktwirtschaft heißt eben auch Arbeitsmarkt. Aus der Reibung zwischen Unternehmern und Leitern der Betriebe sowie den Vertretern der Belegschaft wird eine Triebkraft im sozialen Bereich entstehen (siehe dazu auch Anmerkung -4-). Die andere wird die Konkurrenz sein.

Bleiben wir bei diesem Punkt: Die niedrige Produktivität unserer Wirtschaft hat unter diesen Bedingungen ein Anwachsen sozialer Spannungen zur Folge. Wäre für Sie eine "große Koalition" nach den Wahlen ein Weg, um den hier vorhandenen Sprengstoff nicht zur Explosion kommen zu lassen?
H. Capraro: Ich wehre mich etwas gegen den Fatalismus der Arbeitslosigkeit. Es ist unbe- stritten, dass aus dem Bereich der Verwaltung viele Arbeitskräfte herausgelöst werden müssen, um produktiver zu werden. Aber wir werden auf der anderen Seite in anderen Bereichen, so der Ökologie, mehr Beschäftigte benötigen. Ein anderer Aspekt: Ich möchte die Mieten nicht einfach dem ungezügelten Markt überlassen. Es muss Mietpreisbindungen nach wie vor geben. Hier müssten sich Plan und Markt treffen. Ich würde also einen Teil der Subventionen beibehalten. Immobilien dürfen auch nicht einer zügellosen Marktwirtschaft übverlassen werden. Im Übrigen wäre das Fehlen einer Opposition eben jener Zustand, den wir seit Jahrzehnten zu beklagen haben. Opposition ist lebenswichtig für die Demokratie.
F. Meyer: Wir können natürlich nicht die Marktwirtschaft nicht über Nacht hereinbrechen lassen. Genau wie wir nicht sagen, ab morgen werden wir die beiden deutschen Staaten vereinigen. Da könnten wir auch die Grenzen gleich abschaffen. Da die Wirtschaft der BRD genug produziert, um auch hier die Bedürfnisse zu decken, blieben viele ohne Arbeit. Wir hätten dann nicht nur zwei Millionen Arbeitslose. Die Möglichkeit einer "großen Koalition" müssen wir aus heutiger Sicht ablehnen (-5-).


Anmerkungen des Verfassers:
-1- Das Ziel eines demokratischen Sozialismus wurde im Berliner Programm der SPD (West) während des Partei- tages am 20. Dezember 1989 formuliert. Erheblichen Einfluss auf diese Programmatik nahm ein Positions-Papier der so genannten Grundwerte-Kommission aus Vertretern der SPD (West) unter Führung von Eppler und der SED, aus dem Hintergrund gesteuert vom damaligen Chef-Ideologen Hager, das im Sommer 1987 verabschiedet wurde. Dies brachte der SPD (West) nicht völlig unberechtigt, den Vorwurf ein, sich von der Deutschen Einheit verabschiedet zu haben und behinderte die SDP in der DDR, später in SPD in der DDR umbenannt, erheblich im Wahlkampf vor der ersten Volkskammerwahl am 18. März 1990. In einer beispiellosen Schlammschlacht mit Begriffen wie Vaterlands- verräter Willy Brandt und dem Vorwurf, die SPD plane ein neues Sozialismus-Experiment, nutzten die Wahlkämpfer der von der CDU angeführten Allianz für Deutschland diese Schwachstelle gnadenlos aus. Besonders Oskar Lafontaine, der federführend am Berliner Programm mitarbeitete, machte während seiner öffentlichen Auftritte kein Hehl aus seinen Sympathien für das überlebte System der DDR. Eine von der SPD (West) gelieferte Palette mit Broschüren des Berliner Parteitages, die verteilt werden sollten, wanderte daher auf Beschluss des Vorstands der Erfurter SPD in das Altpapier. Das Berliner Programm wurde erst im Jahre 2007 durch das Hambuger Programm abgelöst.
-2- Es gab in der Gründungszeit der DDR-SPD eine Reihe von Überlegungen, wie man das System der staatlichen Planung und Leitung der Wirtschaft verändern könne. Als jedoch der Kurs auf Währungsunion und schnelle Verei- nigung beider Deutscher Staaten an Dynamik gewann, wurde sehr schnell klar, dass wir das in der BRD herrschende System übernehmen werden müssen.
-3- nach Günter Mittag, dem DDR-Wirtschaftslenker im Politbüro der SED.
-4- Diese Aussage lehnte ich bereits wenige Tage später, nach einem Besuch einer Tagung des "Frankfurter Kreises" ab.
-5- Auf Beschluss der am 18. März in ersten freien Wahlen gewählten Volkskammer wurde eine Regierung unter Beteiligung aller neuen Parteien gebildet (einschließlich der "gewendeten" ehemaligen Ost-CDU und der ehemaligen anderen Parteien, mit Ausnahme der SED-PDS)